Standortanalyse 2025: Der Zentralitätsindex im Einzelhandel mit aktuellen Datenquellen und KI bewertet
Vom Projektteam der COMBASE AG
Der Zentralitätsindex (auch Einzelhandelszentralität oder Zentralitätsfaktor) bleibt ein wichtiger Referenzwert in der Standortanalyse des stationären Handels. Er zeigt, ob eine Kommune Kaufkraft aus dem Umland anzieht (> 100) oder Kaufkraft abfließen lässt (< 100). Was sich seit 2012 grundlegend verändert hat (vgl. unseren damaligen Artikel), sind Datenlage, Messfrequenz und Auswertungstiefe: Neben klassischen Kaufkraft- und Umsatzkennziffern stehen heute mobilfunkbasierte Mobilitätsdaten, digitale Frequenzmessungen und KI-gestützte Modelle zur Verfügung. Dieses Update ordnet die Kennzahl fachlich ein, benennt Grenzen und zeigt, wie moderne Datenströme und KI eine robustere Standortentscheidung ermöglichen.
1) Begriff, Formel und Aussagekraft
Die gängige Bildung des Index lautet nach wie vor:
Zentralität = (Einzelhandelsumsatz je Einwohner / einzelhandelsrelevante Kaufkraft je Einwohner) × 100.
Werte > 100 deuten auf Kaufkraftzufluss, Werte < 100 auf Abfluss. In Deutschland veröffentlichen u. a. Industrie- und Handelskammern sowie spezialisierte Datenanbieter regelmäßig Zentralitäts- und Kaufkraftdaten.
Wesentliche Aussage: Die Zentralität misst die Anziehungskraft des stationären Handels eines Gebietes. Sie ist damit ein geeignetes Screening-Instrument, ersetzt aber keine differenzierte Analyse des Branchenmixes, der Tagesbevölkerung, der Konkurrenzdichte oder der städtebaulichen Qualität.
2) Grenzen des klassischen Zentralitätsindex
Die Kennzahl ist aggregiert und retrospektiv. Eine hohe Zentralität kann durch einzelne großflächige Betriebe getrieben sein und sagt nicht automatisch etwas über kleinteilige Lagen, Laufwege oder mikrolokale Wettbewerbsvorteile aus. Ebenso beeinflussen Einwohnerstruktur, Online-Handel und Preislage die Interpretation. In der Praxis wird die Zentralität daher als Kontextindikator genutzt, der stets mit weiteren Größen (Frequenz, Reisezeiten, Sortimentsaffinität, Miet- und Baukosten) zu kombinieren ist.
3) Aktuelle Datenquellen 2025:
Von Kaufkraftkarten zu Mobilitäts- und Frequenzdaten
Kaufkraft & Umsatz. IHK-Publikationen und Anbieter wie GfK, MB-Research oder MBI stellen weiterhin kaufkraft- und umsatzbasierte Indikatoren sowie Centrality-Produkte bereit und das kompatibel mit gängigen GIS-Systemen. Diese liefern die notwendige Makroperspektive (Stadt-/Landkreis).
Mobilitäts-/Frequenzdaten. Für die Mikro- und Tagesperspektive kommen anonymisierte, aggregierte Bewegungsdaten aus Mobilfunknetzen hinzu (z. B. Deutsche Telekom Motion Data oder Telefónica Mobility Insights). Sie erlauben Rückschlüsse auf Besucherströme, Dwell-Times und stündliche/wochentägliche Muster, natürlich datenschutzkonform in aggregierter Form.
Praxis-Trend. Auch im internationalen Handel nutzen expandierende Retailer vermehrt Foot-Traffic-Daten und standortbezogene ML-Modelle, um Kannibalisierung zu minimieren, Zielgruppen zu verdichten und Filialnetze resilienter zu planen.
4) KI ergänzt, ersetzt aber nicht die Kennzahl
Methodisch sinnvoll ist nicht die „Ersetzung“ klassischer Kennzahlen, sondern ihre Einbettung in datengetriebene Modelle:
- Standort-Scorecards: Zentralität fließt als Feature zusammen mit Wettbewerb, Erreichbarkeiten (ÖPNV, Pkw-Isochronen), Frequenz, Demographie und Mietniveaus in einen kompositen Standort-Score ein. ML-Modelle (z. B. Gradient Boosting, Random Forest) können nichtlineare Zusammenhänge abbilden und Outlier-Risiken reduzieren.
- Nachfrage- und Umsatzprognosen: Historische POS-Daten, Aktionskalender, Wetter und Events werden mit Mobilitätsdaten gematcht, um lokale Nachfragepeaks zu erkennen (z. B. Saisonspitzen, Wochenend-Hotspots).
- Sortiments- und Preisheuristiken: Zentralität kann als Proxy für Einzugsgebietsstärke dienen: Höhere Zentralität → tendenziell höhere Sortimentstiefe/Varianz; niedrigere Zentralität → rationalisierte Tiefe, dafür stärker aktions- oder frequenzgetrieben. KI-gestützte Simulationen testen Szenarien (z. B. Preissensibilitäten) vor Ort.
5) Vorgehensmodell für 2025: Von der Kennzahl zur Entscheidung
- Screening (Makro): Nutzung aktueller Kaufkraft-, Umsatz- und Zentralitätsdaten zur Grobselektion (Top-Down). Ziel: Kandidatenräume > 100 priorisieren, < 100 nicht ausschließen, aber kritisch prüfen (z. B. Nischenkonzepte).
- Mikroanalyse: Mobilitäts-/Frequenzdaten und Wettbewerbs-Mapping (Fußwege, Sichtachsen, Störfaktoren). Ziel:Tagesprofile, Besucherherkunft, Verweildauern und potenzielle Kannibalisierung quantifizieren.
- ML-gestützte Bewertung: Feature-Set aus Zentralität, Frequenz, Demographie, ÖPNV-/Pkw-Isochronen, Angebotsdichte, Mietniveau, Ereigniskalender. Ziel: Standort-Score, Umsatz-/Deckungsbeitrags-Forecast und Risiko-Bandbreiten.
- Hypothesen-Test am POS: Zeitlich begrenzte Pop-Up-/Shop-in-Shop-Tests oder sortiments-/preisliche A/B-Experimente; Verknüpfung mit POS- und Loyalty-Daten zur Validierung der Annahmen. (Allg. KI-/Retail-Best-Practice.)
- Entscheidung & Monitoring: Nach Roll-out laufendes Monitoring (Frequenz, Conversion, Bonhöhe, Rohertrag) inkl. Nachkalibrierung der Modelle.
6) Produktstatus COMBASE: Von KORONA.optimizer zu KORONA AI
Das frühere Konzept KORONA.optimizer (Planung von vor ca. zehn Jahren) wurde nie produktiv eingesetzt; die Entwicklung wurde schon vor längerer Zeit eingestellt. Aktuell arbeiten wir an KORONA AI. Ziel ist, neben vielen anderen Themen zentrale Standortindikatoren (u. a. Zentralität), POS-Leistungskennzahlen und externe Datenquellen (Mobilität, Demographie, Wettbewerb) zusammenzuführen, um Scorings, Prognosen und Handlungsempfehlungen für Filialnetz, Sortiment und Preise zu unterstützen. KORONA AI versteht sich u.a. als offenes, datenquellen-agnostisches System: Es soll perspektivisch auch kommerzielle Kaufkraft-/Zentralitätsdaten (z. B. GfK/MB-Research/MBI), Open-Data-Bestände verarbeiten und, wo verfügbar, aggregierte Mobilitätsdaten (Telekom Motion Data / Telefónica Mobility Insights) im Rahmen geltender Datenschutzvorgaben. (Zu den Quellen siehe unten.)
7) Zusammenfassend
Die Einzelhandelszentralität ist 2025 kein Auslaufmodell, sondern ein robuster Basisindikator, sofern dieser kontextualisiert wird. In Verbindung mit mobilitäts- und frequenzbasierten Mikrodaten, transparenter Feature-Modellierung und KI-gestützter Prognostik verbessert sich die Treffsicherheit von Standort- und Sortimentsentscheidungen deutlich. Der Weg führt weg vom einzelnen Richtwert hin zu evidenzbasierten, iterativen Standort-Scores mit laufendem Monitoring im operativen Betrieb.
Interessante Quellen (Auswahl)
- IHK Karlsruhe: Einzelhandel Kaufkraft & Umsatz – Definition und Formel der Zentralität.
- Wikipedia (Fachartikel): Einzelhandelszentralität – Definition, Formel, Einordnung & Grenzen. (Für Überblickszwecke, mit Primärverweisen.)
- GfK Geomarketing – Produktseite Einzelhandelszentralität.
- MB-Research / MBI – Retail Centrality (Beschreibung, GIS-Einbindung).
- IHK Rhein-Neckar: Kaufkraftanalyse 2025 (PDF) – aktuelle Kaufkraftzahlen, methodische Einordnung.
- Deutsche Telekom – Motion Data (Retail Analytics); Telefónica – Mobility Insights (anonymisierte, aggregierte Mobilitätsdaten).
- IBM IBV (2024): Revolutionize retail with AI everywhere – KI-Anwendungsfelder im Handel.
- Avison Young (2024): AI and the art of location – ML-Gestaltung der Standortwahl.
- Wall Street Journal (2024): Location (Data) Is Everything for Retailers Opening Stores – Nutzung von Foot-Traffic-Daten in der Expansion.